Die aktuellste Definition von Wissen liefert der Reliabilismus in der
Variante von Robert Nozick, einem amerikanischen Philosophen. Der
Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass dieses Modell keineswegs der
Weisheit letzter Schluss ist, sondern durchaus umstritten ist. Aber die
meisten Probleme lassen sich damit lösen.
Die Reliabilisten
betonen, dass das Subjekt im Gettierfall nur zufälligerweise Recht hat.
Daher fordern sie, dass der Prozess der Meinungsbildung
zuverlässig sein
muss. Das bedeutet, dass das Subjekt auch in einer benachbarten
möglichen Welt zu der Überzeugung kommen muss (z.B. "jemand im Golfclub
besitzt eine Rolex"), zu der es in der echten Welt kommt.
Der Reliabilismus ist daher ein kovariantistischer Versuch, das Gettierproblem zu lösen.
Die große
Frage ist: Was ist eine benachbarte mögliche Welt? Jedenfalls nicht jede
grundsätzlich denkbare Welt, sondern nur eine solche, die der echten
Welt möglichst ähnlich ist.
Das führt natürlich zu schwierigen Abgrenzungsproblemen. Wann ist eine Welt noch benachbart, und wann ist sie es nicht mehr?
Jedenfalls scheinen zwei Kriterien erforderlich zu sein:
1) Eine benachbarte mögliche Welt ist nur so eine solche, in der das Subjekt sich desselben Meinungsbildungsprozesses bedient, wie in der echten.
Der Meinungsbildungsprozess in unserem Golfclubbeispiel wäre: "am Handgelenk des Georg Geizig eine "Rolex" sehen".
2) Eine benachbarte mögliche Welt ist so eine, in der die Zuverlässigkeitsbedingung durch S erfüllt wird.
Die Zuverlässigkeitsbedingung
Es gibt mehrere Arten, wie man diese Zuverlässigkeitsbedingung formulieren kann:
a) als Sensitivitätsbedingung: wäre p in der benachbarten möglich Welt
falsch, würde S dort auch
nicht glauben, dass p.
b) als Stabilitätsbedingung: wäre p in der benachbarten möglichen Welt
wahr, würde S dort auch
glauben, dass p.
Lösen wir das Gettierproblem mit der Sensitivitätsbedingung:
Hätte
niemand im Golfclub eine Rolex (=wäre P in der benachbarten möglich
Welt falsch), würde Norbert Neidig NICHT glauben, dass jemand im
Golfclub eine Rolex besitzt?
Nein! Er würde es dennoch glauben. Daher
erfüllt Norbert Neidig nicht die Stabilitätsbedingung, und weiß nicht,
dass jemand im Golfclub eine Rolex besitzt.
Auch das Beispiel mit den Häuseratrappen lässt sich mit der Sensitivitätsbedingung lösen:
Hätte
Hans kein Haus gesehen (sondern nur eine Atrappe = wäre p in der
benachbarten möglich Welt falsch), würde Hans NICHT glauben, dass er ein
Haus gesehen hat?
Nein! Er würde es trotzdem glauben.
Zum Abschluss noch einmal die traditionelle Wissendefinition:
S weiß, dass p, wenn
1) p wahr ist (Wahrheitsbedingung)
2) S glaubt, dass p (Glaubensbedingung)
3) S rechtfertigende Gründe hat p zu glauben (Rechtfertigungsbedingung)
Und hier die weiterentwickelte Wissensdefinition des Reliabilismus:
S weiß dass p, wenn
1) p wahr ist (Wahrheitsbedingung)
2) S über den Meinungsbildungsprozess M glaubt, dass p
3) Wäre p nicht der Fall, würde S via M nicht glauben, dass p (Sensitivitätsbedingung)
4) Wäre P der Fall, würde S via M glauben, dass p (Stabilitätsbedingung)
5) S glaubt nicht, dass 3) und 4) nicht erfüllt sind (damit haben wir uns hier nicht beschäftigt)
Dem aufmerksamen Leser wird vielleicht aufgefallen sein, dass in dieser Definition die Sensitivitäts UND die Stabilitätsbedingung erfüllt sein müssen. Es handelt sich nicht um alternative Formulierungen ein und derselben Voraussetzung. Warum das so ist, kann man anhand des "Gehirn im Reagenzglas" Gedankenexperimentes erklären. Das mache ich vielleicht mal.
Vielleicht wird dem einen oder anderen auch aufgefallen sein, dass die Wahrheitsbedingung unerlässlich ist. Das Konzept "Wissen" macht nur Sinn, wenn es sich auf die Wahrheit bezieht. Allerdings, wie kann man die Wahrheitsbedingung überprüfen? Wie kann man wissen, dass etwas die Wahrheit ist? Garnicht.
Das Resultat dieser Reihe über das Wissen ist: Wir wissen theoretisch, was alles erfüllt sein muss, damit man sagen kann: "Ich weiß, dass....".
Aber wir wissen niemals, ob wir wissen - denn wir können bei allen Bedingungen überprüfen, ob sie erfüllt sind. Nur bei der Wahrheitsbedingung geht das nicht.